Gekonnte Weiterentwicklung
Die Berliner Institution Altes Zollhaus ist nicht neu erfunden worden. Es wird großartig als zukunftsweisendes Gasthaus unter der Führung
Die Neuerungen drängen sich überhaupt nicht auf. Ganz beiläufig fällt der Blick beim Eingang auf die einladenden Weinklimaschränke. Sie sind extra für das Haus konstruiert worden und als eine Art durchlässige Trennwand von außen als auch von innen einsehbar. Jedes Fach kann extra reguliert werden. Hendrik Canis erklärt das gerne und tippt routiniert auf dem Touchfeld hin und her. Der legendäre Gastronom und Weinexperte, der schon Einiges erlebt hat, ist in dem neuen alten Haus der Gastgeber und dirigiert ein junges Service-Team.
Es ist also kein Wunder, dass bei einem Abend unterschiedliche Weine verkostet werden. Ein Riesling vom Weingut Böhme und Töchter, Saale-Unstrut, aus derselben Gegend Bacchus von Wolfram Poppe, ein Grauburgunder vom thüringischen Weingut Zahn – nur mal als Beispiel. Denn die Weinkarte ist sehr umfangreich, weil die neuen Betreiber Anja und Carsten Schmidt erfolgreiche und mehrfach prämierte Weinhändler sind. „Unsere Sommeliers, egal ob im Zollhaus oder im Drei-Sterne-Restaurant Rutz, sind unabhängig in der Zusammenstellung der Weinkarte“, erklärt Anja Schmidt, die an diesem Abend mit Stolz durch das renovierte, zum Teil sanierte Haus führt.
Sie ist auch diejenige, die zu Herbert Beltle, dem Urgestein der Berliner Gastronomie, den engsten Kontakt pflegte. Gemeinsam luden sie jedes Jahr zur Benefiz-Veranstaltung „Think Pink, Drink Pink and Help!“ ein. Mit dem Kauf jeder Flasche der Drink-Pink-Weine wird die Arbeit der Berliner Krebsgesellschaft unterstützt.
Herbert Beltle sei einer der zuverlässigsten Partner gewesen, menschlich und immer an ihrer Seite. Der fast 70-jährige Mann hatte genug. Er kannte zudem Marco Müller, den Sternekoch aus dem Rutz. Auch der hat seine Erfahrungen früher mal bei ihm und Günter Beyer im Alten Zollhaus gemacht. Gemeinsam haben Schmidts und Beltle das Haus in die Neuzeit katapultiert. Der Gastraum unten ist freigeräumt, die Wände wurden abgewaschen, Tische und Stühle neu angeschafft, so lebt der Raum des Fachwerkhauses auf. Und ein Kachelofen ist derzeit der einzige Blickfang. Es sollen noch angemessene Bodenvasen dazukommen. Auch am großzügigen Tresen ist Platz für ein Glas und eine Kleinigkeit für zwischendurch. Eine Treppe höher sind die Holzbalken freigelegt und auch hier steht einfaches Mobiliar, das stammt noch aus alten Zollhaus-Zeiten, das mit einfachen Lichtmitteln in Szene gesetzt wird. Mit der Reduktion auf das Wesentliche wird dem sinnlichen Genuss des Essens und Trinkens genug angemessener Raum gegeben.
Das Thema Trinken ist bereits geklärt, man ist bei Hendrik Canis in guten Händen. Selbstverständlich gibt es auch ein Bier, das Rollberger aus der Dose. Thema Essen: die Gerichte sind im Vorfeld mit Marco Müller sowie Küchenchef Florian Mennicken (ehemals Facil und Adlon) und seinem erfahrenem Vorgänger Günter Beyer kreiert worden. Und die Karte macht richtig Spaß – man möchte behaupten: fast jedem. Ab 16 Uhr gibt es die sogenannte Gartenkarte. Da ist alles zu haben, was zu einer guten Brotzeit dazugehört. Da steht Schorfheider Wildschweinschinken, Erchingers Rindersalami, Pfälzer Hambel-Leberworscht, Brühpolnische von Zimmermann aus Görzke, Knacker vom Duroc-Schwein und vieles mehr zur Auswahl.
Danach sind Gerichte angesagt, die zum Teil von der Weinbar Rutz herrühren, zum Teil neu kreiert wurden. Das Tatar von gerösteter Karotte und Schafsmilch mit Verveine sowie Miso ist eine einmalige Erfahrung. Karotte hat man so noch nicht gegessen. Dem kann das Tatar vom Allgäuer Weideochsen und Speck mit Gurke sowie Forellenkaviar schon kaum das Wasser reichen. Klassiker wie Königsberger Klopse und die Neuköllner Blutwurst hat die Zollhaus-Crew beibehalten. Der Hühnersalat mit Koriander-Eisbergsalat, Brotwürfeln sowie grünen Paprika ist eine Neukreation, die ein Versuch wert ist. Das edle Fleisch, wie die Entrecôtes und das Strip loin Steak, muss beim nächsten Mal probiert werden. Wenn die entspanntere Post-Corona-Zeit das nötige Kleingeld in den Geldbeutel spült.
Die entsprechenden finanziellen Mittel haben die Schmidts und auch der Hauseigentümer Beltle in die Hand genommen. Die Rohrleitungen, die Lüftungen und die Küche sind komplett neu. Statt am Gasherd kocht das Küchenteam am Induktionsherd. Dafür musste eine neue Stromleitung von der Straße in das Haus gezogen werden. „Klar hatten wir manchmal unterschiedliche Auffassungen, aber nachdem eine Nacht darüber geschlafen wurde, haben wir uns geeinigt und jetzt haben wir, falls es mal mit dem Strom nicht klappt, immer noch eine Gasleitung“, so Anja Schmidt über die Kompromissbereitschaft aller Parteien. Und so ist das neue Namensschild Ausdruck der Gemeinsamkeiten. Über dem Namen Zollhaus steht Rutz, in Neonschrift. „Das haben wir in den Staaten anfertigen lassen, was nicht ganz unproblematisch war.“ Die Ausdauer hat sich nicht nur in diesem Fall gelohnt. (emh)
Rutz – Zollhaus
Carl-Herz-Ufer 30, Kreuzberg,